Genau heute vor 20 Jahren, am 30. April 1993, ging die erste Webseite des World Wide Web WWW öffentlich online. Zur Feier des Jubiläums hat die Europäische Organisation für Kernforschung CERN diese Seite wieder unter der Originaladresse online geschaltet: http://info.cern.ch/hypertext/ WWW/TheProject.html.
Sir Timothy John Berners-Lee, damals Informatiker am CERN, hatte die zugrunde liegende Seitenbeschreibungssprache HTML, das Übertragungsprotokoll HTTP, den einheitlichen Quellenanzeiger URL und den ersten Webbrowser namens WordWideWeb entwickelt. Mit Hilfe von HTML konnte jetzt jeder ganz einfach seine eigene Webseite gestalten, ihr einen Namen geben und der Welt im Internet präsentieren.
Doch im Ergebnis hat sich der Zugang zum Wissen der Welt für die meisten Menschen verengt, weil Zäune errichtet wurden.
Schon früh griff der Kommerz nach dem WWW. Zweifelsohne: Menschen können sich weiter und schneller vernetzen, Alltagsinformationen sind nur einen Mausklick entfernt, vieles ist bequemer geworden. Aber Dienstleister lassen jetzt auch ihre Kunden die Arbeit machen, etwa beim Internetshopping, bei Reisebuchungen oder beim Online-Banking. Aber zur Bildung hat es nicht unbedingt beigetragen, obwohl es alle Möglichkeiten dafür anbietet.
Meine Welt vor dem WWW
Vor über zwanzig Jahren genoss ich als Wissenschaftsjournalist schon das Privileg, das Internet über das Deutsche Forschungsnetz für meine Arbeit nutzen zu dürfen. Damit verbunden war auch eine E-Mail-Adresse, die ich auf meine Visitenkarte drucken ließ. Natürlich fragte mich damals fast jeder, was denn diese merkwürdige »@«-Angabe zu bedeuten habe, und natürlich fühlte ich mich als Avantgardist.
Physikalisch angeschlossen war ich mit meinem Rechner über ein piepsendes Modem zwischen Rechner und Telefonanschluss an das Deutsche Klimarechenzentrum DKRZin Hamburg. Über dieses Kästchen stand mir die damalige Welt des Internet offen. Sie bestand im Wesentlichen aus Datenbanken, aus den Newsgroups von Forschern im Usenet, eine Art frühes Facebook, und aus Literaturdokumenten in der Gopher-Sphäre. Gopher wurde zwei Jahre vor HTTP entwickelt und ähnelte auffallend dem späteren WWW. Über Telnet- und FTP-Programme hatte ich den direkten Zugang zu den Arbeiten der weltweiten Gemeinde der Naturwissenschaftler. Für sozial- und Geisteswissenschaftler war das Internet damals noch kein Thema.
Irgendwann im Mai 1993 rief mich die damalige Pressesprecherin des DFN, Gudrun Quandel, an. Sie sagte, dass es da jetzt etwas neues für das Internet geben würde, das WWW. Ob ich denn daran interessiert sei, das auszuprobieren. Sie würde mir dann die entsprechende Zugangssoftware schicken.
Natürlich war ich interessiert, zumal ich darüber bereits etwas in der Newsgroup „alt.hypertext“ gelesen hatte. Einige Tage später lag dann ein Briefumschlag mit einer Diskette in meinem Briefkasten, auf dem ich ein kleines Macintosh-Programm namens »Mosaic« fand.
Vom Nutzen des Code
Dass ich damit einen historischen Moment in der Menschheitsgeschichte miterleben sollte, war mir absolut nicht klar. Denn so richtig konnte ich dem WWW eigentlich nichts abgewinnen. Da gab es die Homepage des DFN, die Homepage des DKRZ und eine paar Homepages amerikanischer Universitäten mit Instituts-, Abteilungs- und Projektlisten. Mehr nicht. Gopher und vor Allem FTP mit seiner Archie-Suchmaschine erschienen mir damals denn doch viel nützlicher. Dort fand ich die echten Informationen.
Doch der HTML-Code faszinierte mich. Ich sah in ihm die Möglichkeit, mir damit ein bequemes Dokumenten-, Ideen- und Wissensmanagement für mein Computer-Archiv auf dem Macintosh einzurichten. Mit dem Programmieren einer Art Wikipedia für den Eigengebrauch verbrachte ich damals viele Stunden – acht Jahre vor der Nupedia, dem Vorläufer der heute so bedeutenden Wikipedia.
Im WWW surfte ich wenig, beobachtete aber, wie es wuchs und wie sich dort mehr und mehr Informationen fanden, die es vorher bei Gopher gegeben hatte. Als dann nach ein, zwei Jahren immer mehr Bilder und optische Spielereien im WWW auftauchten, wechselte ich vom »Mosaic« zum »Lynx«-Browser, einem rein textbasierten Leseprogramm für das Web, der übrigens immer noch funktioniert. Bilder waren nur als Links eingebunden, die ich dann herunterlud, wenn sie mir nennenswerte Zusatzinformationen versprachen.
Die Kommerzialisierung
Jetzt, nach 20 Jahren, habe auch ich mich an die Kommerzialisierung des Web gewöhnt. Aber ich habe auch gelernt, dass besonders bunte Seiten in der Regel keine Informationen bereit stellen. Gewiss, ein paar Anwendungen, wie Online-Banking, Fahrpläne, Reise-, oder Hotelbuchungen sind schon ganz angenehm. Aber als Medium, um neue Informationen und Wissen zu beschaffen?
Blogging vor WordPress
Im Rückblick hat sich inhaltlich eigentlich ja kaum etwas getan, außer dass alles bunter und marktschreierischer geworden ist. Auch der technische Fortschritte ist eher mager.
Regelmäßig Texte für das Internet zu schreiben, heute »Blogs« genannt, begann ich ab 1994 – ganz einfach in HTML. Auch heute noch, wo mein Blog sich inzwischen des WordPress-Programms bedient, bevorzuge ich nach wie vor die Quellcode-Ansicht des Schreibfensters.
Suchmaschinen verschleiern die Welt
Die Suchmaschinen der frühen 1990er Jahre – Wanderer, Altavista und Yahoo – hatten mir damals weit wertvollere als Google heute, vor allem auch neue und überraschende. Heute hüllen Google und Bing – letzteres wird auch von Yahoo genutzt – die Nutzer in eine Blase ein, die ihnen nur das bestätigen, was sie sowieso schon wissen. Systematisch verwehren sie den Blick über den Tellerrand, den Einblick in andere Informationen, die den Suchern vielleicht neue, überraschende und auch andere Blickwinkel für ihr vorhandenes Wissen zeigen könnten. Im WWW gehen echte Neuigkeiten im Grundrauschen der Nichtigkeiten unter.
Für meine Arbeit sind Google und Bing eher Informationsverschleierungsmachinen. Sie verweigern mir die Informationen, hinter denen ich eigentlich her bin. Ihr Algorithmus präsentiert mir auf meine Abfragen nur das, was die meisten anderen Nutzer der Suchmaschinen angeklickt haben. Ich soll also in einer Informationsblase bleiben, in der ich nur das zu sehen bekomme, was alle anderen auch sehen wollen. Fakten, die ich noch nicht kenne, werden mir nicht angezeigt. Umgehen lässt sich das nur mit gründlich ausgearbeiteten boolschen Abfragen – oder mit der Nutzung von Spezialsuchmaschinen, wie etwa »Metager«.
Darüber hinaus erfasst der Suchmaschinenprimus Google allenfalls 167 Terabyte an Daten im WWW – von schätzungsweise 91.850 Terabyte, also gerade einmal knapp 0,2 Prozent der im WWW vorhandenen Informationen. Sicher, ein großer Teil davon ist privat und nur mit Passwörtern zugänglich. Aber im sogenannten »undurchsichtigen Web« (opaque web), im »unsichtbaren Web« (invisible web) und im »wirklich unsichtbaren Web« (truly invisible web) liegen Informationen, deren Erfassung die Suchmaschinen technisch noch nicht leisten können oder bei denen der technische Aufwand zu groß wäre. Auch Webformulare von Datenbanken, zahlreiche PDF-Dokumente und Datenformate, die sich in den normalen Browsern nicht anzeigen lassen, bleiben ungenutzt [ref]Wikipedia: Deep Web (2013-05-01)[/ref].
Wie man da ran kommt? Ganz einfach: Zum guten alten Telefon greifen. Das geht dann besonders leicht, wenn man bei Kontakten anfragt, die über Jahre gewachsen sind.
Soziale Medien errichten Zäune
Auch die sozialen Medien, wie Facebook oder Google+ sind so neu nicht. Mailinglisten und das Usenet mit seinen Newsgroups gibt es seit den 1970er Jahren, Internet-Foren und Message Boards erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit, vor allem unter Menschen, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren. Facebook und Google+ haben an der Art der Kommunikation nicht wirklich etwas geändert. Sie haben nur einen Zaun um ihre Nutzer errichtet, der sie effektiv davon abhält, sich in den Weiten des Weltweiten Webs umzuschauen nach wirklich neuen Ideen, Kontakten und Überraschungen, die die Welt verändern könnten.
Welten jenseits von Google und jenseits des WWW
Tim Berners-Lee hat der Welt mit seinem HTML-Code ohne Zweifel ein unschätzbares Geschenk gemacht. Die Erde ist kleiner geworden, die Menschen sind zusammen gerückt, vieles ist bequemer geworden, das Wissen der Welt ist theoretisch für alle zugänglich. Aber gleichzeitig hat die Kommerzialisierung Zäune errichtet, Blickwinkel eingeengt, und die Möglichkeiten, an das Wissen der Welt zu gelangen, erschwert.
Doch das muss nicht das Ende sein: Der Code kann noch viel bewegen, sehr viel mehr, als wir uns heute vorstellen können. Es gibt ein World Wide Web jenseits von Google und Facebook, und es gibt ein Internet jenseits des WWW. Bleibt zu hoffen, dass auch dieses Wissen eines Tages seinen Weg in die Gesellschaft findet und vor allem dazu beitragen kann, Bildung zu erlangen, statt nur schnödes, kommerziell verwertbares Wissen.
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