Kategorie: 4 Wissenschaft & Gesellschaft

Wissenschaft, Klima, Energiewende und mehr …

Portfolio aktualisiert bei Torial

Klima – Krise, Katastrophe, Wandel, Chance

Malizia: Unite behind the Science

Neues zum Klima – jeden Freitag neu

Meine Artikel bei MIT Technology Review:

  • Klimaerwärmung,
  • Nebenwirkungen und Extremwetter,
  • Anpassung,
  • Ideen, die helfen könnten, die Auswirkungen irgendwie abzumildern.

… zu den Artikeln bei Heise Online..

Trotz durchgeimpfter Bevölkerung: Vorläufig kein Licht am Ende des Tunnels

Auch eine erfolgreiche Impfkampagne wird nicht davor schützen, dass die Epidemie immer wieder erneut aufflammt. Die AHA-Regeln – Abstand, Hände waschen, Alltag mit Maske – werden die Menschheit trotz Impfungen noch sehr lange begleiten. Auch regional begrenzte Lockdowns wird es immer wieder geben müssen.

SARS-CoV-2-Virus

SARS-CoV-2-Virus (Bild: Alissa Eckert, Dan Higgins)

Das hat ein Forschungsteam um den renommierten Mathematiker und Epidemiologen Matt Keeling vom Zeeman Institut für Systembiologie und Epidemiologie von Infektionskrankheiten an der Universität von Warwick, England, bis zum Jahr 2024 modelliert.

Das Modell bezieht sich zwar auf Großbritannien, wo bereits mehr als
26 Millionen Einwohner
mindestens eine Impfdosis erhalten haben, also fast 40 Prozent. Aber gerade deshalb lassen sich daraus durchaus Schlüsse auf die zukünftige Lage auch in Deutschland ableiten, wo derzeit mit 7,2 Millionen Impfungen nicht einmal neun Prozent ihre erste Impfspritze bekommen haben.

Sollte es nämlich keine Schutzmaßnahmen geben und die Impfungen 85 Prozent aller Infektionen verhindern, so würde der R-Wert dennoch bei um die 1,58 bleiben. Jeder Infizierte würde also rein rechnerisch nach wie vor 1,58 weitere Personen anstecken. Ohne Impfungen würde der R-Wert bei 3,15 liegen.

Dass der R-Weit sogar bei einer durchgeimpften Bevölkerung ohne Schutzmaßnahmen immer noch über 1,0 bleibt, liegt daran, dass eine Impfung nicht bei allen Menschen gleich wirkt. So würden Todesfälle insgesamt zwar radikal verhindert, aber ohne jede weitere Schutzmaßnahme würde der Anteil der vollständig Geimpften an den COVID-19-Todesfällen zwischen 48,3 und 16 Prozent liegen. Dabei haben die Forscher die höhere Infektiosität durch die Variante B.1.7.7 noch gar nicht mit eingerechnet.

Die Autoren warnen eindringlich davor, bereits jetzt in England Lockerungen einzuführen. Denn trotz des hohen Anteils an Geimpften in der Bevölkerung kann immer noch eine neue Infektionswelle aufflammen, die dann landesweit zu 1 600 Sterbefällen pro Tag führen könnte.

Bei gleich bleibendem Impffortschritt in England sollten Lockerungen erst in fünf bis zehn Monaten ins Auge gefasst werden. Rein rechnerisch würde das immer noch zu bis zu 50 Toten pro Tag bei wirklich hartem Lockdown führen, oder bis zu 450 Tote pro Tag bei moderatem Lockdown.

Veröffentlicht ist die Untersuchung im Peer-Review-Journal „The Lancet“ vom 18. März 2021.

Aktualisierung vom 2021-04-06:

„Nature“ 18. März 2021: Fünf Gründe, warum eine Covid-Herdenimmunität wahrscheinlich unmöglich ist – trotz umfangreicher, flächendeckender Impfungen. Die deutsche Übersetzung gibt es hier bei „Spektrum“.

Die fünf Gründe ergeben sich nach dem „Nature“-Artikel von 18. März 2021 aus folgenden Problemen, die die Autorin aufzählt:

  • 1. Es sei nach wie vor unklar, ob die Impfungen die weitere Übertragung verhindern. »Herdenimmunität ist nur relevant, wenn wir einen Impfstoff haben, der die Übertragung blockiert. Wenn das nicht der Fall ist, besteht die einzige Möglichkeit, eine Herdenimmunität in der Bevölkerung zu erreichen, darin, alle zu impfen«, wird Shweta Bansal zitiert, Expertin für Mathematik in der Biologie an der Georgetown University in Washington DC
  • 2. Die Impfstoffe seinen weder auf nationaler und schon gar nicht auf internationaler Ebene gleichmäßig verteilt. Über Israel, mit einer Durchimpfung von derzeit 60 Prozent, heiß es in der „Spektrum“-Übersetzung des Artikels von Aschwanden mit einem Zitat von Dvir Aran, biomedizinischer Datenwissenschaftler am Technion des Israel Institute of Technology in Haifa: „»Das Problem ist jetzt, dass die jungen Leute sich nicht impfen lassen wollen«, sagt Aran. Deshalb locken die Behörden sie mit Dingen wie Gratis-Pizza und Bier. Gleichzeitig haben Israels Nachbarn Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten noch nicht einmal ein Prozent ihrer jeweiligen Bevölkerung geimpft.“
  • 3. Zunehmend neue Virus-Varianten würden die Berechnungen für weitere Planungen unsicher machen. Hinzu komme, dass höhere Immunitätsraten, beispielsweise auch durch zunehmende, aber zu langsam voranschreitende Impfungen, einen Selektionsdruck erzeugen könnten, bei dem Varianten entstehen, die geimpfte Menschen erneut infizieren würden.
  • 4. Es ist nach wie vor unklar, wie lange die Impf-Immunität überhaupt anhält.
  • 5. Die Geimpften könnten ihr Verhalten ändern. Der Artikel zitiert eneut Aran mit den Worten: „Doch angenommen, er [der Impfstoff] böte 90 Prozent Schutz: »Wenn Sie vor der Impfung höchstens eine Person getroffen haben und jetzt mit der Impfung zehn Personen treffen, kommt das auf das Gleiche raus.«“

Das Resüme des Artikels ist ein Zitat des Impfstoff-Epidemiologen Stefan Flasche an der London School of Hygiene & Tropical Medicine: „Wir sollten uns also Gedanken darüber machen, wie wir mit dem Virus leben können.“ Aschwanden endet hoffnungsvoll: „Die Krankheit wird dann vielleicht nicht so bald verschwinden – ihre Bedeutung wird aber wahrscheinlich schrumpfen.“


Bild: Wikimedia-Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SARS-CoV-2_without_background.png

Nur für Eliten? Oder können Wissenschaftsjournalisten auch verständlich schreiben?

Wissenschaftsjournalisten und -kommunikatoren ignorieren, dass 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ihre Botschaften nicht verstehen. Es gibt aber Darstellungsformen, um auch diese Bürger zu erreichen, damit sie mitreden können.

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Für wen schreiben Wissenschaftsjournalisten eigentlich? Wen erreichen Wissenschaftskommunikatoren?

Mehr als ein oder zwei Millionen Menschen dürften die populären, gedruckten Wissenschafts- und Technikmagazine wohl kaum erreichen. Mal abgesehen von den speziellen Nerd-Magazinen für Computer-, Handy-, Eisenbahn-, Flugzeug- und Modellbaufans. Vermutlich bringen es auch die Wissenschaftsseiten der Tages- und Wochenblätter auf kaum mehr Leser.

Demgegenüber stehen aber 7,5 Millionen Menschen, die überhaupt nicht richtig lesen können. Dazu noch einmal mehr als 13 Millionen, denen das Lesen Mühe macht und die es deshalb vermeiden, überhaupt zu lesen.

Schreiben für Wenige

Zusammengenommen sind das 40 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 64 Jahren, die nicht richtig lesen können, geschweige denn, den Sinn von Gelesenen verstehen. Keine kleine Minderheit also.

Wissenschaftsjournalisten lassen diese Menschen allein. Es sind gerade die so genannten Qualitäts-Printmedien, die sich in der Wissenschaftsberichterstattung einer ausgefeilten Sprache bedienen. Sie entspricht nur selten den journalistischen Stilkriterien von Direktheit, Kürze, Prägnanz und Klarheit. Längere verschachtelte Sätze sind fast üblich und manch ein Autor versucht sogar mit Wortspielen und Anspielungen literarische Glanzlichter zu setzen.

Das sei den Blättern unbenommen, bedienen sie doch ein Klientel, dass durchaus auch Lust an er Sprache und der Ausdruckskraft geschriebener Texte hat.

Wer nicht lesen kann, ist noch lange nicht dumm

Wenn jemand aber nicht richtig lesen kann, vermag er zwar einzelne Wörter, oft auch kurze Sätze zu lesen und zu verstehen, aber komplizierte Sätze und lange Texte überfordern ihn. Es sind Menschen, die das Lesen nie richtig gelernt oder schon wieder verlernt haben, es sind Lern- und leicht geistig Behinderte, aber auch Migranten.

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Nicht lesen zu können heißt noch lange nicht, dumm zu sein. Auch diese Menschen, die nun wirklich keine Minderheit sind, haben ein Recht darauf, informiert zu werden, damit sie an öffentlichen Diskursen teilzunehmen können.

Seit einiger Zeit bemühen sich viele Wissenschaftsjournalisten redlich darum, mehr gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, anstatt nur das Echo der Aufmerksamkeitsmaschine des Wissenschafts- und Forschungssystems zu sein.

Das ist gut. Aber wenn 40 Prozent der Menschen im Arbeitsalter diesen Themen gar nicht folgen können, bleiben Wissen und Teilhabe an öffentlichen Diskursen weiterhin auf die Bildungseliten beschränkt. Und diesen Eliten, zu denen auch die Journalisten selbst gehören, ist selten klar, wie es um Lebenswirklichkeit in den unteren Etagen steht. Kein Wunder, wenn diese Publikumsferne dazu beiträgt, dass Mythen und Verschwörungstheorien vor allem in den sozialen Netzwerken um sich greifen.

Lösung: Leichte Sprache?

Vielleicht wäre eine Darstellungsform, wie sie das „Netzwerk Leichte Sprache“ seit 2006 propagiert und entwickelt, eine Möglichkeit, auch die zahlreichen Bürger mit Forschungsthemen zu erreichen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben.

Bemühungen gibt es bereits. So führte die Journalistin Cornelia Reichert von „Wortboten“ bereits 2013 die Verwendung leichter Sprache auf der Konferenz der Wissenschaftsjournalisten „Wissenswerte“ in einem Werkstattgespräch vor.

Erste Plattformen in leichter oder einfacher Sprache gibt es inzwischen zumindest für allgemeine Nachrichten- und Berichtsthemen, wie etwa beim Deutschlandfunk mit seiner Webseite „Nachrichten leicht“. Die Texte stehen hier zusätzlich als langsam und deutlich gesprochene Audiodateien zur Verfügung. Aber eigene Nachrichten aus der Forschung fehlen noch.

Audio und Video neu denken

Man könnte meinen, dass es ja Radio, Fernsehen und Mediatheken für die gibt, die nicht lesen können.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Auch da ist die Sprache in der Regel nicht einfach und oft zu schnell. Im Radio werden redundante Informationen gerade bei Live-Beiträgen zu selten eingesetzt. Das Fernsehen liefert immer schnellere Schnittfolgen, und Sprache und Bild stimmen oftmals nicht gut überein.

Somit sind auch hier neue Stil- und Sprachformen nötig. Wie das geht, haben die Journalistinnen Anika Assfalg und Kerstin Pasemann im vergangenen Jahr schon mal gezeigt: Wissenschaftsjournalismus in „Leichter Sprache“ im Radio – ein Experiment für mehr Barrierefreiheit.

Wissenschaftsjournalische Grundlagen

Es sollte für Journalisten im Grunde gar nicht so schwer sein, leicht verständlich zu schreiben und zu reden. Man muss sich ja vielleicht nicht unbedingt buchstabengetreu an den strengen Regelkatalog des „Netzwerks Leichte Sprache“ halten, wie es das Portal „Nachrichten leicht“ auch nicht tut. Schließlich ist Verständlichkeit ja eine Grundregel journalistischer Darstellung: Kurze Sätze von nicht mehr 15 Wörtern, keine Schachtelsätze, Aktiv statt Passiv, keine Substantiv- und Genitivketten, konkret statt allgemein, Adjektive auf Informationsgehalt prüfen. Damit dürfte der Sprung zu einer noch leichteren Darstellungsform nicht schwer sein. Leichte und einfache Sprache sind im Grunde nichts anderes, als diese Kriterien wortwörtlich zu nehmen und darüber hinaus ein paar spezielle Wortregelungen, beispielsweise Trennung langer Wörter, und eine einfachere Artikelstruktur zu beachten, wie ein Gedanke, eine Zeile.

Und die Wissenschaftskommunikation?

Bei den Wissenschaftkommunikatoren tut sich bisher offenbar gar nichts. Die Initiative der deutschen Wissenschaft „Wissenschaft im Dialog“ und das „Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation“ verzichten sogar auf die Eigendarstellung ihrer Tätigkeiten in leichter Sprache, wie es selbst bei Behörden üblich ist.

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Nicht manipulieren

Eine Gefahr leicht verständlicher Darstellungsformen soll aber nicht verhehlt werden: Je leichter verständlich ein Text formuliert ist, desto einfacher lässt er sich für Manipulationen missbrauchen. Denn Nuancen kann man damit nicht gut ausdrücken. Das zeigen schon die recht einfach gehaltenen Texte der Bild-Zeitung. In leichter oder einfacher Sprache zu schreiben, erfordert von den Autoren also ein besonderes Verantwortungsbewusstsein, damit sie die Kernaussagen eines Themas nicht in eine falsche Richtung lenken.

Neue Einsicht

Ganz nebenbei: Quellen unter dem Blickwinkel der leichten Sprache zu analysieren, kann sogar für die Autoren selbst äußerst erhellend sein, wie das Beispiel einer Pressemitteilung des VW-Konzerns von 22. April 2016 zeigt, die „Brand Eins“ in leichte Sprache übersetzte: „Volkswagen ist traurig“.


Literatur:
GROTLÜSCHEN, Anke, Wibke Riekmann (Hrsg. 2014): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo-Level-One Studie. Herausgegeben vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Waxmann-Verlag, Münster. PDF


Bildnachweise (von oben nach unten):
– Reading Newspaper in Addis Abeba: Terje Skjerdal, CC BY 2.0, Wikimedia Commons
– Lesen gefährdet die Dummheit: Carschten, Wikimedia Commons
– Christopher Kloeble beim Lesen: Stephan Röhl, CC BY-SA 2.0, Wikimedia Commons


Aktualisierung:
2016-11-18 Die Aussagen zur Wissenschaftskommunikation wurden geändert. Gleichzeitig wurde stärker verdeutlicht, dass es in der Tat noch einer zusätzlichen Anstrengung bedarf, um von den Grundregeln journalistischer Darstellung, wie kurze Sätze, Aktiv statt Passiv, usw., zur wirklich leichten Sprache zu gelangen.

Zehn Jahre nach Al Gores Präsentation und Film „The Inconvenient Truth“ (Unbequeme Wahrheit) wurde es Zeit die Welt erneut aufzurütteln. Jetzt ist es Leonardo DiCaprio, der am 30 Oktober 2016 seinen Film „Before the Flood“ (Vor der Flut) veröffentlichte. Binnen zwei Tagen klickten rund 5,5 Millionen Zuschauer den spielfilmlangen Dokumentarfilm mit seinen beeindruckenden Bildern und Aussagen an. – Aber: Es sind gerade die „Grün“ wählenden und denkenden Bürger, die sich sicherlich auch besonders bei Klimawochen engagieren, die am häufigsten ins Flugzeug steigen. Auch beim Energieverbrauch gibt es Korrelationen: Je höher Einkommen und formale Bildung, umso höher das Umweltbewusstsein, umso höher aber auch der Energieverbrauch – wenn man von einer kleinen Gruppe konsequent Handelnder absieht.

Weiterlesen auf: Wissenschaftsdebatte.de

Sprechstunde mit 90 Experten

Einen echten Experten für einen Euro mieten. Mit ihm oder ihr eine halbe Stunde von Angesicht zu Angesicht reden: Das konnte man am 21. Oktober 2016 im Kulturzentrum Kampnagel in Hamburg

Wer immer schon mal mit einem Profi über Behinderung, Prothesen, Cyborgs, Körperverbesserung, die Zukunft der Technik, Ethik, Kultur und Philosophie reden wollte, bekam auf auf der Kampnagel-Veranstaltung die Gelegenheit dazu. Egal, ob jemand Wissensfragen hatte oder vorhatte, mit einem Fachmenschen eigene Gedanken und Ideen zu bereden, der konnte sich aus 90 Experten den passenden auswählen und mit ihm eine halbe Stunde Redezeit buchen.

Damit nicht genug: Wer einfach nur zuhören wollte, der lieh sich einen Radioempfänger mit Kopfhörer. Auf sieben Kanälen konnte man sich in ausgesuchte Zwiegespräche einwählen. Für Hörbehinderte standen Gebärdendolmetscher bereit, einige von ihnen übersetzten gut sichtbar ausgewählte Diskussionen in den Publikumsraum hinein. Auf einer großen Leinwand rollte zusätzlich eines der Gespräche schriftlich ab.

216 Einzelgespräche an einem Abend

Die „Klienten“ genannten Teilnehmer buchten sich beim Empfang ihren Experten, dem sie dann an einem von 36 Tischen gegenüber sitzen durften. Über sechs Runden hinweg wechselten die Gesprächspartner alle halbe Stunde, so dass an dem Abend Gelegenheit für insgesamt für 216 Gespräche war. Auf den Sitzstufen im Publikumsbereich saßen im Halbdunkel noch mindestens ebensoviele Zuschauer und lauschten in ihre Kopfhörer.

Bereits 19mal wurde dieses Gesprächsformat unter dem Titel „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“ in aller Welt inszeniert. Diesmal in Hamburg unter der Titel „The Extraordinary Ordinary: Behinderung, Technokörper und die Frage der Autonomie“. Die deutsche Theaterdramaturgin Hannah Hurtzig entwickelte das Konzept mit ihrer „Mobílen Akademie“, die sich mit ihren Veranstaltungen irgendwo zwischen Wissensvermittlung, und Perfomance, zwischen Volkshochschule und Theater bewegt.

Breites Themenspektrum

Auch wenn Behinderung der Schwerpunkt war, die Gesprächsthemen gingen oft weit darüber hinaus. So beispielsweise die Philosophieprofessorin Petra Gehring von der TU Darmstadt. Sie ist Expertin für Theorien über Leben und Tod, Bio- und Sterbeethik, und rechtsphilosophische Fragen. Dem Gespräch mit ihrer Klientin konnte man im Kopfhörer folgen. Darin kritisierte sie nicht nur, wie schnell sich in Ethikdebatten und -kommissionen Wissenschaftler zu Experten hochstilisieren, die von Ethik wenig Ahnung haben. Für sah Ethik auch als Geschäftsmodell für einige Wissenschaftler, ihre Reputation zu heben.

An einem anderen Tisch ging es um Cyborgs und die interessante Überlegung, ob künstliche Gliedmaßen nicht eines Tages sehr viel besser und sogar anderes fühlen könnten, als die natürlichen.

Neue Formate erreichen ein großes Publikum

In der zweimonatigen Vorbereitung hatte das Team um Hannah Hurtzig mit 201 Experten gesprochen: Wissenschaftler, Literaten, Künstler, Journalisten und Behinderte als Experten in eigener Sache. Schade ist jedoch, dass die Wissenschaftlerauswahl vor allem die Gesiteswissenschaftler vorzog. Ein paar mehr Techniker, Techniknerds und Informatiker hätten der Veranstaltung sicherlich noch mehr Substanz geben und Visionen beisteuern können.

Schade auch, dass die Beschreibung des Events reichlich kulturverschwurbelt-eltär daherkam. Die Beschreibung der Veranstaltung im Wortlaut: „Im SCHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN bieten 90 Expert*innen in einer maschinisierten Arena, getaktet im Rhythmus administrierter Zeit, im Rausch der Simultanität und Kollektivität, ihr spezifisches Wissen an.“ Und weiter: „Das, was wir ‚Behinderung‘ nennen, hat das Potential, unser gewohntes Denken über Individualität, Normalität, Autonomie und Hilfe herauszufordern. Ungewöhnliche Gefüge von Körpern und Technologien, Kommunikationsformen außerhalb der Norm und gelebte Abhängigkeiten von anderen lassen vielfältige Perspektiven auf das zu, was wir ‚den Menschen‘ nennen.“

Eine solch abgehobene Sprache war nicht dazu angetan, viele Menschen vom Sofa zu locken. Die vielleicht vierhundert oder fünfhundert Besucher dürften somit eher einer hochkulturaffinen Gesellschaftsschicht zuzuordnen sein. Was vielleicht nicht einmal schlecht ist. Haben ihre Vertreter doch hier die Gelegenheit gehabt, wenn auch eingeschränkt, einmal mit Technik und Technikvisionen konfrontiert zu werden.

Alles in allem ist es, wie auch die „Hamburger Weltklimakonferenz 2015“ des Regietrios „Rimini Protokoll“, eines der gelungenen neuen Formate, um Wissen, Bildung und Debatte einem großen Publikum erfolgreich nahezubringen.

Bemerkenswert: Beide Formate haben Theatermacher entwickelt. Vielleicht sollten Wissenschaftskommunikatoren mehr auf deren Expertise setzen, als auf professionelle Moderatoren oder Kommunikationsmanager.

Das »Wissenschaftsbarometer« stellt Fragen

Wissenschaft interessiert die Menschen. Dennoch misstrauen sie ihr. Schlimmer noch: Viele fühlen sich von ihr allein gelassen. Forscher reden zu wenig über ihre Arbeit, Bürger dürfen zu wenig mitbestimmen. Das aktuelle »Wissenschaftsbarometer 2016« bleibt zwar oberflächlich, kann aber dennoch ein paar Denkanstöße liefern.

Über das aktuelle »Wissenschaftsbarometer 2016«, Anfang Juli veröffentlicht von Wissenschaft im Dialog, wurde schon einiges geschrieben. Besonders kritisch betrachtet Hanno Charisius in der Süddeutschen die Ergebnisse. Martin Ballaschk dagegen, Blogger bei SciLogs, versucht den Ergebnissen Gutes abzugewinnen – verständlich angesichts seiner Position als Redakteur des Marketing-Magazins »MDC Insights« des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft.

Auf der Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis

Auf der Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis

Vertrauensfrage schön geredet

Der Umfrage zufolge finden 70 Prozent der Befragten, dass Wissenschaft ganz allgemein nützlich ist, zumindest aber nicht schadet. Daraus zu folgern, »dass die Menschen in Deutschland der Wissenschaft überwiegend vertrauen«, wie Bundesforschungsministerin Johanna Wanka in der Pressemitteilung ihres Ministeriums zitiert wird, ist aber denn doch reichlich schön geredet.

Denn zur Vertrauensfrage stand eine ganz andere Aussage zur Wahl: »Die Menschen vertrauen zu sehr der Wissenschaft und nicht genug ihren Gefühlen und dem Glauben«. 38 Prozent stimmten diesem Satz zu, 32 Prozent fanden ihn falsch, der Rest war sich nicht sicher, ob dem so ist. Als Vertrauensbeweis für die Wissenschaft reicht das nun wirklich nicht aus.

Noch skurriler erscheint Wankas Interpretation angesichts der Antworten zu den – leider nur vier – Schwerpunktthemen. Bei den erneuerbaren Energien trauen 53 Prozent den Forschern und Entwicklern – eine nicht besonders überzeugende Mehrheit.

Weit erschreckender ist das Misstrauen gegenüber den Wissenschaftlern, die den Klimawandel erforschen. Immerhin sind sie es, die die wissenschaftlichen Grundlagen für den Ausbau der grünen Energien liefern. Satte 59 Prozent wissen entweder nicht so richtig, was sie von den Erkenntnissen der Klimaforschung halten sollen, oder sie sind sogar äußerst argwöhnisch.

Lichtblick: Das Interesse wächst

Trotz der Ambivalenz in Bezug auf das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Wissenschaft ist es immerhin erfreulich, dass sich zunehmend mehr Menschen für Wissenschaft interessieren. Waren es 2014 noch 33 Prozent gewesen, so sind es bei der aktuellen Umfrage immerhin schon 41 Prozent der Befragten – was aber auch bedeutet, dass sich die Mehrheit nicht oder nicht besonders für natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Themen interessiert.

Ganz nebenbei: Es wäre sicherlich sinnvoller gewesen, zwischen industrieller (einschließlich Fraunhofer-Gesellschaft) und universitärer (einschließlich Max-Planck-Gesellschaft) Forschung und Wissenschaft zu unterscheiden. So pauschal, wie das Wissenschaftsbarometer diese beiden Welten über einen Kamm schert, lassen sich auch nur pauschale und wenig wegweisende Erkenntnisse aus den Statements der Umfrage ziehen.

Sprengstoff Beteiligung

Nicht zu verhehlendes Misstrauen gegenüber Wissenschaft, dennoch ein großes Interesse daran. Das enthält Sprengstoff. Die Meinungen zum gesellschaftlichen Fragenkomplex deuten denn auch schon an, wo es schief läuft.

40 Prozent der Befragten wollen sich mehr beteiligen, wenn es um Entscheidungen über Wissenschaft und Forschung geht. 30 Prozent haben noch nicht so richtig darüber nachgedacht. Vermutlich würden sie aber durchaus mehr mitreden, wenn es um Themen ginge, die ihren Alltag betreffen, und wenn sie die Gelegenheit dafür bekämen.

Fast ebenso viele, wie sich mehr Mitspracherecht wünschen, glauben, dass sich die Wissenschaftler zu wenig darum bemühen, die Öffentlichkeit über ihre Arbeit zu informieren, 39 Prozent. Im Klartext heißt das, dass die Wissenschaftskommunikation trotz aller organisatorischen und motivierenden Anstrengungen, trotz enormer finanzieller Aufrüstung in den vergangenen zehn Jahren, es noch immer nicht geschafft hat, alle Menschen mitzunehmen. Die Gründe sind eigentlich klar: Wissenschaftskommunikation passiert noch immer von oben herab und Forscher, die sich in der Wissenschaftskommunikation versuchen, sind oft eher Selbstdarsteller oder Belehrer, die sich wenig für die echten Anliegen ihres Laienpublikums interessieren.

Sei es aus Misstrauen, sei es aus Interesse an der Wissenschaft: 76 Prozent der befragten Bürger sind dagegen, dass Politik und Wirtschaft über die Verwendung von Forschungsmitteln entscheiden. 44 Prozent finden, die Bürger sollten entscheiden, 32 Prozent, dass es die Wissenschaft tun sollte. Der naheliegende Schluss wäre, dass sich Bürger und Wissenschaftler zusammentun, um gemeinsam Forschungsthemen zu entwickeln und sich über die notwendigen Gelder zu einigen. Für die Grundlagenforschung ist das sicherlich keine Bedrohung. Denn eine aufgeklärte Gesellschaft weiß sehr wohl zu schätzen, dass es Forscher gibt, die danach suchen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Astrowissenschaften und Teilchenforschung sind Themen, die viele Menschen interessieren.

Mängel des Umfragedesigns

Als wichtigste Forschungsthemen für die Zukunft haben sich vor allem Gesundheit und Ernährung (42 Prozent), aber auch Klima und Energie (35 Prozent) herausgeschält. Schade, dass die vier Themen den Befragten nur als zwei zusammenhängende Themenbereiche präsentiert wurden, der Bereich Mobilität (3 Prozent) aber extra thematisiert wurde.

Damit haben die Entwickler der Umfrage technische mit sozialen und regulatorischen Themen vermischt. Entsprechend wenig aussagekräftig sind denn auch die Ergebnisse – ein eklatanter Mangel des Umfragedesigns.

Eine weitere Chance haben die Designer der Erhebung vertan, als sie dem gesellschaftlich ausgerichteten Themenkomplex den Titel »Wissenschaft in der Gesellschaft« gaben und dabei den komplementären Blickwinkel »Gesellschaft in der Wissenschaft« ignorierten. So reduzierten sie die Aussageblöcke nur auf »Mitentscheidung«. Und das bedeutet ja im Sinne des fälschlicherweise viel gelobten Prinzips von verantwortlicher Forschung und Innovation (RRI): Die Forscher suchen sich ihre eigenen Forschungsgebiete, die sie an den vorgegebenen Förderprogrammen ausrichten, in die Fördermittel je nach politischer Präferenz gelenkt werden. Sind die Projekte definiert, dürfen die Bürger dann unbezahlt beim Feinschliff helfen, was allenfalls marginale Änderungen des Forschungsdesigns bewirkt, wenn überhaupt.

So finden deshalb auch 46 Prozent der Befragten, dass sie nicht genügend in Entscheidungen einbezogen werden, weitere 28 Prozent sind sich unsicher. Schade, dass sie nicht nach ihren ureigenen Anliegen und Problemen befragt wurden, die vielleicht einer wissenschaftlichen Lösung bedürfen.

Das Umfragedesign ist leider in überholten Denkmustern gefangen und nähert sich deshalb kaum den wahren, durchaus auch entschiedenen Meinungen der Befragten. Für die Herausgeber ist das natürlich bequem, denn dadurch lassen die bunten Grafiken reichlich Spielraum für Spekulationen in jede Richtung, wie die Interpretationen von Wanka über Ballaschk bis Charisius zeigen.

Ganz normale Menschen

Manche Menschen können gut und laut reden, treffen schnell Entscheidungen und bewegen sich eloquent auf Parties und Konferenzen. Das sind die Extravertierten. Manch andere Menschen halten sich zurück, bleiben im Hintergrund, beobachten, durchdenken und reflektieren. Das sind die Introvertierten und Hochsensiblen, die Korrektive der Macher. Warum das aber nicht wirklich wichtig ist.

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Hochsensibilität ist nicht ansteckend. Es ist nicht einmal eine Krankheit. Im Gegenteil: So genannte hochsensible Menschen fühlen sich eigentlich ganz wohl in ihrer Haut – falls sie nicht noch zusätzlich wirklich ernsthafte Macken mit sich herumschleppen. Dennoch haben ihre Ratgeberforen Hochkonjunktur, und professionelle wie selbst ernannte Coaches, Karriere- und Unternehmensberater wittern einen profitablen Markt. Als sei Hochsensibilität eine Behinderung oder chronische Krankheit, bieten sie beispielsweise Kurse zum Thema „Hochsensibel glücklich leben“ zu Preisen zwischen 270 und 565 Euro an.

Hochsensible gelten als zurückgezogen, in sich gekehrt, ja sogar schüchtern. Menschenansammlungen vermeiden sie, bei Teamsitzungen und auf Parties halten sie sich im Hintergrund. Gehen sie dann doch einmal aus sich heraus, wirken sie oft als arrogant, überheblich, abgehoben oder belehrend. Manch einem erscheinen sie tiefgründig und rätselhaft. Braucht aber jemand eine emotionale Stütze, so entpuppen sie sich auch als empathische Zuhörer.

So ungefähr lautet die Aufschrift auf der populärpsychologischen Schublade für Hochsensible. Es sind also ganz normale Menschen. Denn irgendwann hat jeder mal das Bedürfnis, sich zurück zu ziehen, eine langweilige Teamsitzung an sich vorüber rauschen zu lassen oder sich mit Arroganz einer nervigen Diskussion zu entziehen. Im Gegenzug können auch stille Menschen zu kommunikativer Höchstform auflaufen.

Psychologie

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Weil Hochsensibilität für das alltägliche Zusammenleben kaum eine Rolle spielt, interessieren sich nur wenige Forscher dafür, es sei denn sie können damit wissenschaftliche Sporen verdienen, etwa indem sie Beweise dafür finden, dass alle Menschen anders sind.

Warum Hochsensible so sind und ob sie so sind, wie sie scheinen, ist wissenschaftlich denn auch umstritten. Fest steht jedoch, dass es Menschen gibt, die Reize intensiver aus der Umwelt aufnehmen als andere – bis zu 300 Mal stärker als die 70 bis 85 Prozent der übrigen Menschheit. Dazu gehören auch die inneren Reize, wie Gedanken oder Gefühle, die sie deutlicher wahrnehmen und lange und gründlich reflektieren. Der Grund sind individuelle Filter im Kopf, die bei einigen Gehirnen für unwichtig gehaltene Informationen blockieren, bei anderen durchlassen. Je mehr Informationen durchkommen, desto schneller ist der Hirnspeicher voll, desto mehr Zeit und Ruhe brauchen die Hirnzellen, um die Menge und Vielfalt der Datenmenge zu verarbeiten. Als Konsequenz brauchen solche Menschen viel Zeit, um etwas zu entscheiden. Haben sie sich aber zu einem Entschluss durchgerungen, ist die Lösung in der Regel perfekt, gewissenhaft und ethisch durchdacht. Sie selbst würden sie aber wohl als Bauchgefühl bezeichnen.

Menschen mit einem solch durchlässigen Filter nehmen bei ihren Mitmenschen besonders viele, auch unbewusste Botschaften wahr, so dass bei der facettenreichen Fülle der einströmenden Eindrücke im Gehirn nur wenig Platz für enge Freunde bleibt. Bei der Masse an Signalen, die bei zwischenmenschlichen Konflikten ausgetauscht werden, kommt es bei ihnen schnell zur Überstimulation der Nervenzellen. Kein Wunder, dass sie Auseinandersetzungen meiden und so als harmoniebedürftig gelten. Auch mit ausgeprägten Alltagsroutinen vermeiden sie eine übermäßige Hirnstimulation, damit ihnen mehr Zeit, Raum und Energie zum kreativen Denken bleibt.

Dieses Sammelsurium beschreibt nur einen Teil dessen, was in populärwissenschaftlichen Online- und Offline-Traktaten gehandelt wird. Es gibt eben kein Diagnose- oder Testverfahren für Hochsensibilität. Das liegt auch daran, dass die neurowissenschaftliche Datengrundlage recht dünn ist – ein Problem vieler psychologischer Hypothesen.

Neurologie

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Die Psychologin Elaine Aron führte den Begriff 1997 als „sensory-processing sensitivity“ in die Persönlichkeitspsychologie ein. Zusammen mit ihrem Mann untersuchte sie zwar inzwischen Hunderte von Probanden, schien dabei aber nicht besonders repräsentativ vorgegangen zu sein. 

Nichtsdestotrotz sind inzwischen auch neurowissenschaftliche Grundlagenforscher dabei, sich dieser Variation menschlicher Persönlichkeitsstrukturen anzunehmen. Sowohl die Beobachtung von Kleinkindern, wie auch Genanalysen legen in der Tat nahe, dass die Ausprägungen der Hochsensibilität offenbar stark in den Genen begründet ist. Das belegen auch Beobachtungen an zahlreichen Tierarten, unter denen es immer Individuen gibt, die sich zurückhaltend und vorsichtig verhalten, und dann intuitiv ihre Gruppe vor Gefahren warnen oder sie zu übersehenen Wasserlöchern führen.

So interessant diese Forschungsergebnisse sind, mit der Einordnung tun sich die Wissenschaftler schwer. Denn möglicherweise ist Hochsensibilität ja auch nur der Unterfall eines ganz anderen psychologischen Phänomens oder ein Gemisch verschiedener Komponenten des verbreiteten psychologischen Persönlichkeitsmodells, das Big Five genannt wird.

Big Five

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Die Big Five sind fünf Persönlichkeitskategorien, die sich zwei Grundmerkmalen zuordnen lassen. Zur so genannten Plastizität einer Persönlichkeit gehören die beiden Kategorien Extraversion/Introversion und Offenheit für Neues. Zur so genannten Stabilität die drei Kategorien emotionale Ausgeglichenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.

Praktischerweise lassen sich die beiden übergeordneten Merkmale auch den beiden wichtigsten Schaltkreisen im Gehirn zuordnen, dem Serotonin- und dem Dopaminpfad. Der Botenstoff Serotonin hält das Innenleben stabil und wirkt eher hemmend. Das Dopamin dagegen gilt als Glückshormon. Bei starker Ausschüttung kurbelt es den Erkundungsdrang an, der Mensch ist auf Abenteuer aus, um sein Glück zu finden. Lässt die Menge dieses Hormons nach, ist der Mensch auch mit wenig glücklich – und seien es die eigenen Gedanken, denen der nachhängen kann.

Die Mischung und unterschiedliche Ausprägung dieser fünf Persönlichkeitsaspekte als Teile der beiden Grundmodelle Stabilität und Plastizität kann zwar im Groben viele Charakterzüge von Persönlichkeiten erklären, reicht aber bei weitem nicht aus, die vielfältige Einzigartigkeit von Menschen wirklich zu beschreiben.

Introversion

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Interessanterweise hat sich die populärpsychologische Szene aus diesem Charakterquintett die Extraversion-Introversion-Pole herausgenommen und den introversen Pol mit ähnlichen, teilweise denselben Attributen besetzt, wie sie für Hochsensibilität kursieren. Der Grund ist das erfolgreiche Selbstfindungsbuch der einstigen Rechtsanwältin Susan Cain mit dem Titel „Still: Die Kraft der Introvertierten“. Sie baut dabei auf eher historische Überlegungen zu extravertierten und introvertierten Charaktermodellen auf. Ihr Fehler ist, Introversion als geschlossenes Charakterbild zu sehen und zu ignorieren, dass bestimmte Eigenschaften, die sie Introvertierten zuschreibt, auch für andere Profile des Big-Five-Modells gelten. Beispielweise kann der Drang Introvertierter, sich zurückzuziehen, auch zur Big-Five-Eigenschaft der emotionalen Ausgeglichenheit gehören, die dem Stabilitätsstrang zuzuordnen ist. Die Extraversion-Introversion-Schaukel gehört dagegen zum Plastizitätsstrang.

Jeder ist anders

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Die Entdeckung des Hochsensiblen und Introvertierten hat an sich wenig praktische Bedeutung. Es sind eben Persönlichkeitsausprägungen, wie andere auch, wie Langschläfer und Nachtarbeiter, extravertierte Macher, kauzige Nörgler, Rechts- und Linkshänder, Naturliebhaber und Technikfreaks.

Neu ist, dass die Ratgeberindustrie Hochsensible und Introvertierte als Kunden entdeckt hat, ihnen aber einzureden versucht, dass sie ein Problem haben. Das haben sie aber meist nicht, obwohl sich viele der so Einsortierten sicherlich öfter mal eine Anerkennung für ihr reflektiertes Engagement wünschen. Die meisten fühlen sich in ihrer selbst gewählten Zurückhaltung ganz wohl, auch wenn sie manchmal glauben, auf einem anderen Stern zu leben angesichts der Leichtfertigkeit, Kurzsichtigkeit und Hektik, mit denen viele wirtschaftliche und politische Entscheidungen getroffen werden.


Wieviel bist du von andern unterschieden?
Erkenne dich, leb mit der Welt in Frieden!

Aus dem Gedicht „Zueignung“ von Johann Wolfgang Goethe


Weiter lesen:


Bild: Ranveig/Commons.Wikimedia/CC BY-SA 3.0

Skagerrak – Europas Mülltonne

Schwedische Küstenforscher schlagen Müll-Alarm. 20.000 Müllteile pro hundert Meter Strandlinie: Seit drei Jahren türmt sich an Schwedens und Norwegens Westküsten immer mehr Müll.

Noch um die Jahrtausendwende zählten die Forscher nur 1.000 bis 1.200 Müllteile auf hundert Metern, wie Per Nilsson von der Universität Göteborg am 18. April 2016 gegenüber dem schwedischen Fernsehen SVT Väst erklärte[1].

Bis zu 96 Prozent der Müllflut ist Plastik – und damit eine tödliche Gefahr für Meerestiere und Vögel. Denn sie verwechseln die Plastikteile mit Nahrung und verhungern mitunter bei vollem Magen. Schlimmer noch: Meereswellen zerreiben die Kunststoffe zu winzigen Partikeln, die sogar von mikroskopisch kleinen Krebstieren gefressen werden, die ziemlich am Anfang der marinen Nahrungsketten stehen und die Grundnahrung für Fische sind.

„Ob das jetzt ein zufälliger Anstieg oder ob es ein langfristiger Trend ist, wissen wir nicht. Aber wir sind beunruhigt,“ sagte Per Nilsson im Fernsehen. „Bohuslän, die Landschaft nördlich von Göteborg, ist eines der Gebiete, das in Europa das größte Problem hat. Hier finden wir den meisten Müll unter allen Küsten am Nordatlantik.“

Mit gerade einmal 236 Müllteilen auf 100 Meter Nordseestrand[2] oder gar nur 60 Teilen auf 100 Meter Ostseestrand[3] erscheinen die deutschen Küsten geradezu sauber. Aber nur deshalb, weil Meeresströmungen den größten Teil des Unrats von den englischen und kontinentaleuropäischen Küsten genau ins Skagerrak spülen, wo inzwischen ein ausgedehnter Müllwirbel rotiert.

Reise des Meeresmülls

Reise des Meeresmülls

In der Nordsee dreht sich nämlich die Strömung wie ein großer Kreisel gegen den Uhrzeigersinn vom Atlantik, entlang der englischen, belgischen, niederländischen, deutschen und dänischen Küsten bis hinein ins Skagerrak. Zusätzlich fängt der Strudel auch den Abfall aus der Strömung ein, die die Ostsee entlang der schwedischen Westküste verlässt. So ist es zu erklären, dass 80 Prozent des Mülls aus den nicht-skandinavischen Nord- und Ostsee-Anrainerstaaten stammen, auch aus Deutschland.

Neu ist das für Experten nicht. Neu ist die schnelle Zunahme. Erstmals berichtete vor genau drei Jahren das norwegische Fernsehen über eine besorgniserregende Beobachtung von Liv-Marit Hansen, einer Mitarbeiterin des Oslofjord-Freizeit-Rates. Bei einer einmaligen Sammelaktion an den Ufern des Schären-Nationalparks Hvaler am östlichen Eingang des Oslofjords zählte sie schon damals mehr als 20.000 Müllteile auf hundert Meter[4] – Müll der nicht aus Norwegen stammt. Aber die EU-Küstenanrainer, zu denen Norwegen nicht gehört, beginnen erst jetzt, acht Jahre nach Inkrafttreten der Europäischen Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie[5], Maßnahmen zu ergreifen, um der Meeresvermüllung Einhalt zu gebieten[6]. Doch es scheint fraglich, ob sich das Ziel erreichen lässt, in den nächsten vier Jahren die EU-Müllmengen so weit zu reduzieren, dass sie keine Gefahr mehr für Meereslebewesen und -ökosysteme darstellen.


[1] http://www.svt.se/nyheter/lokalt/vast/vastkusten-skrapigast-i-hela-europa

[2] http://www.umweltbundesamt.de/service/uba-fragen/was-ist-ueber-die-belastungssituation-der-deutschen

[3] http://www.regierung-mv.de/serviceassistent/_php/download.php?datei_id=1570123

[4] http://www.nrk.no/ostfold/mer-soppel-langs-kysten-1.10988284

[5] http://www.meeresschutz.info

[6] http://norden.diva-portal.org/smash/get/diva2:824655/FULLTEXT01.pdf


Karte: Wikimedia Commons. Halava using GRASS GIS, Inkscape and GIMP. Verändert vom Autor.

»Zukunftsstadt«:
Antworten ohne Fragen
Das Wissenschaftsjahr der Technokraten

Das Wissenschaftsjahr »Zukunftsstadt«[1] geht zu Ende. Es war ein Markt technokratischer Eitelkeiten und die PR-Kampagne für zahlreiche Smart-City-Initiativen, darunter die »Morgenstadt«[2] der Fraunhofer Gesellschaft. Was bleibt hat wenig mit der Stadt als Lebensraum und noch weniger mit dem Leben der Menschen zu tun. Ja, es hat nicht einmal zum umfassenden Nachdenken über eine Stadt der Zukunft für Menschen gereicht.

Songdo-Banner

Songdo (Banner)

Der Hype um die Optimierung der Städte durch Technik verspricht vor allem eins: Viel Geld für die großen Informationstechnologie-Konzerne. Im Mittelpunkt: Vor Allem digitale Produkte, die man den Kommunen verkaufen kann, aber nie die Möglichkeiten und Wünsche der Menschen. Erfahrungen von Stadtplanern und Architekten, Erkenntnisse von Soziologen und Humanwissenschaftlern: Allenfalls Randnotizen.

Zwar haben auch Planer und Baumeister in der Vergangenheit teure Fehler gemacht, als sie in den 1950er und 1960er Jahren der Philosophie Le Corbusiers folgend autogerechte Städte planten und durchsetzten. Aber viele von ihnen haben seitdem aus den Fehlern gelernt.

Solche Erfahrungen haben die neuen IT-Stadtplaner noch nicht sammeln könnten, ja, sie berücksichtigen nicht einmal, dass groß angelegte, modische Veränderungsprozesse zu gewaltigen Fehlentwicklungen führen können. Allumfassend zu reflektieren gehört eben nicht zum Ingenieursdenken, das allein auf Effizienz getrimmt ist.

Mehr als Technik

So lieferte denn auch das Wissenschaftsjahr »Zukunftsstadt« nur mehr von Gewöhnlichen. Die Ingenieure öffneten ihre Werkzeugkisten und zeigten, was sie damit alles machen können. So lud man Bürger beispielsweise zur Ausstellung auf dem Binnenschiff »MS Wissenschaft« ein, um die Ideen von rund 30 wissenschaftlichen, zumeist ingenieurwissenschaftlichen Instituten anzuschauen und damit herumzuspielen. Das nannte sich dann »mitgestalten« – aber eben nur mit den angebotenen Spielzeugen.

Dass eine gute Stadt mehr braucht, als digitale Vernetzungen, Big-Data-Algorithmen, futuristische Fahr- und Flugzeuge oder künstliche Natur, blieb außen vor. Weit weg auch der Gedanke, dass Ineffizienz auch Freiraum bedeutet, in dem die Menschen ihre Lebensräume frei gestalten, Trampelpfade durch den Großstadtdschungel schlagen, die weder Kameras noch Sensoren erfassen.

Innovation statt Stadt

In ihrer »Nationalen Plattform Zukunftsstadt« hat die Bundesregierung denn auch klargestellt, dass es gar nicht um die Städte geht, sondern darum, »neue Strategien für Forschung und Innovation in Deutschland zu entwickeln«[3].

Slim (Nairobi)

Spontane Stadtentwicklung (Nairobi, Kenia)

Als übergreifendes Szenario musste immer wieder die Prognose herhalten, dass 70 Prozent der neun Milliarden Menschen im Jahre 2050 in Städten leben werden. Aber es wachsen in erster Linie nur die Städte in den armen Ländern. Die aber entsprechen schon heute nicht dem Stadtverständnis von Europäern und Nordamerikanern, bei denen die Mittelstädte sogar schrumpfen.

Die Weltbank zeigte in einer Studie, dass die meisten Stadtbewohner in armen Ländern hier nicht ihre permanente Heimat finden, sondern zwischen Stadt und Land migrieren[4]

Unberücksichtigt auch, das selbst die Bewohner in den Slums der Megastädte und der tristen Stadtrandsiedlungen vielleicht Lösungen für lebenswerte Orte bereithalten. Das war nur Thema des Dokumentarfilms »Slums: Cities Of Tomorrow«[5], nicht aber der »Zukunftsstadt«. Was Ingenieure in Deutschland entwickeln und im Wissenschaftsjahr 2015 zeigten, dürfte die Probleme der wachsenden Städte wohl kaum lösen.

Ganzheitlicher Umbau statt Technokratie

Aus der Masse der Daten, die schon heute in einer Stadt anfallen, wie Stromverbrauchszeiten, Fußgänger- und Verkehrsströme, Wasser- und Abwasserflüsse oder Wärmeverteilung, lassen sich höchstens Algorithmen konstruieren, die die Organisation effizienter machen. Sie mögen zur klimatischen Nachhaltigkeit beitragen, aber die Qualität des Lebens in den Städte verbessern sie nicht.

Das wissen auch Kommunalpolitiker, wie Hilmar von Lojewski, Leiter des Dezernats Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr beim Deutschen Städtetag: »Was die Industrie anbietet ist in der Regel nicht unbedingt maßgeschneidert. Das ist eben nicht ein ganzheitlicher Umbau einer Stadt, sondern das sind immer Teilbereiche.« Und weiter: »Die Städte sind nicht das Labor, um das zu erproben, was man dann international vermarktet. Deshalb sind wir da auch zurückhaltend, ohne aber technologiefeindlich zu sein.«

Daten statt Sehen

Jan Gehl

Jan Gehl (Architekt und Stadtplaner)

Big-Data-Analysen reichen eben nicht aus. Nirgendwo während des Wissenschaftsjahres »Zukunftsstadt« war zu lesen, dass sich Stadtplaner für Tage oder Wochen an Straßen oder Plätze setzten und einfach nur beobachteten und protokollierten, wie sich die Menschen dort bewegen, welche Stellen sie vermeiden, wo sie gerne stehen bleiben, wo Jugendliche sich zurückziehen, wie und wo sie bei Regen oder Sonne gehen, wo und wann sie sich irgendwo hinsetzen.

Dabei ist genau das das Erfolgsrezept der Kopenhagener Agentur »Gehl Architects«. »Nebenbei kommen dann schon erste Gedanken, wie und wo man etwas verbessern kann,« so ihr Gründer Jan Gehl, der nicht nur Kopenhagen zur freundlichsten Stadt für Fußgänger und Radfahrer umgestaltete, sondern auch die Autos vom New Yorker Times Square verbannte. Seine Idee der »Stadt für Menschen« fiel bei zahlreichen Stadtverwaltungen weltweit auf fruchtbaren Boden, wie beispielsweise in Melbourne, Moskau, Vancouver, San Francisco und Sao Paulo.

Das Wissenschaftsjahr »Zukunftsstadt« ist großartig gescheitert. Es gab nur technokratische Angebote, aber keine, die die Nachfragen befriedigen konnten, für Probleme, für die sich die Menschen Lösungen für ihre eigene Stadt, ihr eigenes Quartier wünschen.


[1] Wissenschaftsjahr 2015 »Zukunftsstadt«, eine Initiative des Bundesmininsteriums für Bildung und Forschung: https://www.wissenschaftsjahr-zukunftsstadt.de

[2] Morgenstadt-Initiative des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation: http://www.morgenstadt.de

[3] Nationale Plattform Zukunftsstadt: https://www.wissenschaftsjahr-zukunftsstadt.de/uebergreifende-infos/das-wissenschaftsjahr-partner/nationale-plattform-zukunftsstadt.html

[4] World Bank Group (2015): East Asia’s Changing Urban Landscape: Measuring a Decade of Spatial Growth. Washington, DC: World Bank. https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/21159,License: CC BY 3.0 IGO.

[5] Slums: Cities of tomorrow: http://www.filmfesthamburg.de/de/programm/Film/21910/Bidonville_architectures_de_la_ville_future


Bilder:

1. Songdo Banner“ von https://www.flickr.com/photos/sharonhahndarlin/https://www.flickr.com/photos/sharonhahndarlin/8965716074/. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons
2. Spontane Stadtentwicklung in Nairobi (Kenya 2005)“ by Piergiorgio Rossi – produzione propria. Licensed under Public Domain via Wikimedia Commons
3. Hanns-J. Neubert