Einen echten Experten für einen Euro mieten. Mit ihm oder ihr eine halbe Stunde von Angesicht zu Angesicht reden: Das konnte man am 21. Oktober 2016 im Kulturzentrum Kampnagel in Hamburg
Wer immer schon mal mit einem Profi über Behinderung, Prothesen, Cyborgs, Körperverbesserung, die Zukunft der Technik, Ethik, Kultur und Philosophie reden wollte, bekam auf auf der Kampnagel-Veranstaltung die Gelegenheit dazu. Egal, ob jemand Wissensfragen hatte oder vorhatte, mit einem Fachmenschen eigene Gedanken und Ideen zu bereden, der konnte sich aus 90 Experten den passenden auswählen und mit ihm eine halbe Stunde Redezeit buchen.
Damit nicht genug: Wer einfach nur zuhören wollte, der lieh sich einen Radioempfänger mit Kopfhörer. Auf sieben Kanälen konnte man sich in ausgesuchte Zwiegespräche einwählen. Für Hörbehinderte standen Gebärdendolmetscher bereit, einige von ihnen übersetzten gut sichtbar ausgewählte Diskussionen in den Publikumsraum hinein. Auf einer großen Leinwand rollte zusätzlich eines der Gespräche schriftlich ab.
216 Einzelgespräche an einem Abend
Die „Klienten“ genannten Teilnehmer buchten sich beim Empfang ihren Experten, dem sie dann an einem von 36 Tischen gegenüber sitzen durften. Über sechs Runden hinweg wechselten die Gesprächspartner alle halbe Stunde, so dass an dem Abend Gelegenheit für insgesamt für 216 Gespräche war. Auf den Sitzstufen im Publikumsbereich saßen im Halbdunkel noch mindestens ebensoviele Zuschauer und lauschten in ihre Kopfhörer.
Bereits 19mal wurde dieses Gesprächsformat unter dem Titel „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“ in aller Welt inszeniert. Diesmal in Hamburg unter der Titel „The Extraordinary Ordinary: Behinderung, Technokörper und die Frage der Autonomie“. Die deutsche Theaterdramaturgin Hannah Hurtzig entwickelte das Konzept mit ihrer „Mobílen Akademie“, die sich mit ihren Veranstaltungen irgendwo zwischen Wissensvermittlung, und Perfomance, zwischen Volkshochschule und Theater bewegt.
Breites Themenspektrum
Auch wenn Behinderung der Schwerpunkt war, die Gesprächsthemen gingen oft weit darüber hinaus. So beispielsweise die Philosophieprofessorin Petra Gehring von der TU Darmstadt. Sie ist Expertin für Theorien über Leben und Tod, Bio- und Sterbeethik, und rechtsphilosophische Fragen. Dem Gespräch mit ihrer Klientin konnte man im Kopfhörer folgen. Darin kritisierte sie nicht nur, wie schnell sich in Ethikdebatten und -kommissionen Wissenschaftler zu Experten hochstilisieren, die von Ethik wenig Ahnung haben. Für sah Ethik auch als Geschäftsmodell für einige Wissenschaftler, ihre Reputation zu heben.
An einem anderen Tisch ging es um Cyborgs und die interessante Überlegung, ob künstliche Gliedmaßen nicht eines Tages sehr viel besser und sogar anderes fühlen könnten, als die natürlichen.
Neue Formate erreichen ein großes Publikum
In der zweimonatigen Vorbereitung hatte das Team um Hannah Hurtzig mit 201 Experten gesprochen: Wissenschaftler, Literaten, Künstler, Journalisten und Behinderte als Experten in eigener Sache. Schade ist jedoch, dass die Wissenschaftlerauswahl vor allem die Gesiteswissenschaftler vorzog. Ein paar mehr Techniker, Techniknerds und Informatiker hätten der Veranstaltung sicherlich noch mehr Substanz geben und Visionen beisteuern können.
Schade auch, dass die Beschreibung des Events reichlich kulturverschwurbelt-eltär daherkam. Die Beschreibung der Veranstaltung im Wortlaut: „Im SCHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN bieten 90 Expert*innen in einer maschinisierten Arena, getaktet im Rhythmus administrierter Zeit, im Rausch der Simultanität und Kollektivität, ihr spezifisches Wissen an.“ Und weiter: „Das, was wir ‚Behinderung‘ nennen, hat das Potential, unser gewohntes Denken über Individualität, Normalität, Autonomie und Hilfe herauszufordern. Ungewöhnliche Gefüge von Körpern und Technologien, Kommunikationsformen außerhalb der Norm und gelebte Abhängigkeiten von anderen lassen vielfältige Perspektiven auf das zu, was wir ‚den Menschen‘ nennen.“
Eine solch abgehobene Sprache war nicht dazu angetan, viele Menschen vom Sofa zu locken. Die vielleicht vierhundert oder fünfhundert Besucher dürften somit eher einer hochkulturaffinen Gesellschaftsschicht zuzuordnen sein. Was vielleicht nicht einmal schlecht ist. Haben ihre Vertreter doch hier die Gelegenheit gehabt, wenn auch eingeschränkt, einmal mit Technik und Technikvisionen konfrontiert zu werden.
Alles in allem ist es, wie auch die „Hamburger Weltklimakonferenz 2015“ des Regietrios „Rimini Protokoll“, eines der gelungenen neuen Formate, um Wissen, Bildung und Debatte einem großen Publikum erfolgreich nahezubringen.
Bemerkenswert: Beide Formate haben Theatermacher entwickelt. Vielleicht sollten Wissenschaftskommunikatoren mehr auf deren Expertise setzen, als auf professionelle Moderatoren oder Kommunikationsmanager.
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